Am 29.11.2019 fand in Berlin die Konferenz der Bundestagsfraktion DIE LINKE „Teilhabe mit LINKS – Gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen“ statt, zu der ich als Vertreter der „Initiative Inklusion“ eingeladen war, eine Stellungnahme zu einem Antragsentwurf abzugeben. Hier ist sie:

Mit der Unterzeichnung der BRK hat sich Deutschland verpflichtet, Teilhabe an den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern für behinderte Menschen in denselben Strukturen zu gewähren, die den Menschen ohne Behinderung zur Verfügung stehen und von diesen genutzt werden.
Anschließend an den ersten Staatenbericht hat der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UN in „Abschließenden Bemerkungen“ Deutschland aufgefordert, das nun auch umzusetzen: Insbesondere seien das segregierende Schulwesen zurückzubauen und die Behindertenwerkstätten zugunsten einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt schrittweise abzuschaffen.
Das ist nicht so einfach, und ich möchte das Problem an einem Beispiel erläutern:
Vor fast drei Jahren hatten einige Wohnheime, Tagesstätten und Werkstätten in Deutschland Besuch von einer merkwürdigen Praktikantin. In quotensteigernder Absicht hat sich eine Journalistin von RTL als Praktikantin ausgegeben und in diesen Einrichtungen Menschen an ihrem Arbeitspatz und an ihrem Wohnort heimlich gefilmt und entwürdigendes und erniedrigendes Verhalten seitens der Betreuerinnen und Betreuer dokumentiert. Man kann diese Geschichte unter verschiedenen Aspekten betrachten. Einen will ich herausgreifen: RTL wirbt für den Film mit dem Slogan „Bilder aus einer weitgehend geschlossenen Welt“ und benennt damit, wahrscheinlich ungewollt, den Kern des Problems. Es reicht nicht aus, uns gegenseitig zu versichern, dass „unsere Mitarbeiter sowas nicht machen“. Das Problem sind die geschlossenen Welten, die Heime, die Tagesstätten und auch die Werkstätten. Die müssen geöffnet werden. Das ist aus verschiedenen Gründen nicht so einfach.

Das Problem der Exklusion, des Ausschlusses gibt es schon sehr lange. Als im 19. Jahrhundert im Kapitalismus riesige Industrien entstanden und die Menschen 14 Stunden in der Fabrik arbeiten mussten, hatten sie keine Zeit für Kinder und weniger Leistungsfähige. Damals begann man, Menschen in großen Anstalten unterzubringen. Die waren meist weit weg und wie eigene Dörfer angelegt. Die meisten sind damals entstanden. Soziale Probleme, so lernen die Bürger seitdem, löst man durch Aussonderung der Betroffenen und durch Professionalisierung der Unterstützer. Das ist erst seitdem so, aber seitdem ist es auch so.
Der alte Gedanke, dass Menschen mit Behinderung sich am besten unter ihresgleichen in einem speziell für sie geschaffenen Milieu abseits der relevanten gesellschaftlichen Strukturen entwickeln ist tief in Ausbildungen und in Haltungsbildungen verankert. Das ist eine 150 Jahre alte Selbstverständlichkeit. Es sitzt ganz tief in unserem Bewusstsein, dass das so sein muss.
Das zu ändern, ist auch das Einfache, das schwer zu machen ist. Aber wir müssen daran gehen.
Ganz besonders möchte ich dabei eine Personengruppe ins Blickfeld rücken, die weitgehend unsichtbar ist. Sie werden unterschiedlich bezeichnet: Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, mit schwersten und mehrfachen Behinderungen, mit komplexem Hilfebedarf usw. Im Erwachsenenalter sind es diejenigen, die nicht in Werkstätten aufgenommen werden. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, Prof. Lamers aus Berlin geht von 70.000 Personen aus.
Bei dem vielzitierten „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeit“ geht es um sie, und zwar darum, ihnen die Möglichkeit zur Teilhabe am zentralen gesellschaftlichen Feld, dem Arbeitsleben, teilzuhaben nicht zu gewähren. Dabei gibt es einige gute Beispiele, die genau das sehr erfolgreich umsetzen, Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, aber eben nur sehr wenige (zum Beispiel das Projekt „Zeit für Arbeit“ der BAG UB)

Um das zu ändern, reicht es aber nicht, wie in Ihrem Antragsentwurf, dieses „Mindestmaß“ zu streichen. Das Ganze muss schrittweise verändert werden. Dietmar Bartsch hat heute Morgen vom Privileg der Opposition gesprochen, ich habe ein noch größeres Privileg. Ich bin kein Politiker, nicht mal Funktionär, sondern Privatmann. Ich muss es nicht machen, aber: Wir brauchen ein Gesamtkonzept für Teilhabe am Arbeitsleben für alle Menschen mit Behinderung.
Dazu wiederum brauchen wir einen übergreifenden Diskussionsprozess. Die WfbM’s sind vernetzt, die Inklusionsforscher*innen sind vernetzt, die WRD ist vernetzt, die behindertenpolitischen Akteure sind vernetzt, die Sozialpädagog*innen sind vernetzt, die IFD’S sind vernetzt… Ganz offensichtlich gibt es eine Vielzahl gut funktionierender singulär agierender Strukturen. Wenn diese Einschätzung richtig ist, dann würde sie genau das Dilemma abbilden, vor dem wir insgesamt stehen: Wir sind nicht inklusiv genug, um „Inklusion“ voranzubringen zu können! Ein solch komplexes Thema kann nicht vertikal und in quasi geschlossenen Gruppen diskutiert werden, das ist ein Widerspruch in sich.

Mit einer solchen Veränderung müssen „dicke Bretter gebohrt“ werden: Der Mensch steht im Mittelpunt, nicht der Markt! Die Märkte sehen das aber anders. Wir kratzen damit am Grundprinzip unserer neoliberalen Wirtschaftsordnung, nur mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft wird das nicht gehen.
Was sind die Qualitätsmerkmale und Standards für „gute Arbeit für Menschen mit Behinderung“? Jedenfalls nicht, dass sie „wirtschaftlich verwertbar“ sein muss.
„Wirtschaftlich verwertbar“ ist ja nett formuliert, das meint in unserer Wirtschaftsordnung profitabel ausbeutbar. Aber Menschen müssen nicht wirtschaftlich verwertbar sein, um an der Gesellschaft teilhaben zu dürfen.
Warum muss die Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung wirtschaftlich verwertbar sein? Und für wen? Das „Mindestmaß wirtschaftlicher Verwertbarkeit“ ist ein ideologischer Begriff, der im Kern die „Relativierung des Menschen auf seine Verfügbarkeit für den Markt“ (Oskar Negt) ausdrückt. Das Ende der konsequenten Fortsetzung des Prinzips der wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Tätigkeit von Menschen liegt in Hadamar.
Es muss möglich sein, darüber nachzudenken, was es für Alternativen geben kann zu Sondereinrichtungen oder wie diese sich aus der Exklusion herausentwickeln können. Das ist in allen Bereichen der Sonderwelten verlangt, bei den Sonderkindergärten, den Sonderschulen und den Heimen. Warum fällt uns das im Arbeitsleben so schwer?
Werkstätten (und auch Förderstätten) werden sich schon bald selber grundsätzlich bewegen müssen, ganz einfach weil zukünftige Kunden etwas anderes wollen. Früher war der Weg in die Werkstatt schon bei dem Eintritt in die „Sonderschule für geistig Behinderte“ vorgezeichnet. Heute kommen Schulabgänger auf die Arbeitswelt zu, deren Eltern schon für den integrativen Kindergarten gekämpft haben, die integrative oder gar die zarten Anfänge inklusiver Beschulung erfahren haben und die inklusive Freizeitangebote wahrnehmen. Denen reicht die Perspektive nicht, die nächsten 40 Jahre Vogelfutter für 210 Euro im Monat einzupacken oder eine Tagesförderstätte mit einem schönen Wasserklangbett und vielen Steckspielen zu besuchen. „Die Behindertenhilfe braucht ein neues berufliches Selbstverständnis für die Zeit nach der Besonderung.“ (Roland Frickenhaus) Das haben wir in den Konzepten schon ansatzweise, in den Köpfen und in der Praxis aber noch nicht.

Selbstverständlich kann man Sonderwelten wie Werkstätten für behinderte Menschen, Tagesförderstätten oder Wohnheime nicht sofort und nicht ersatzlos schließen. Man kann aber Fehlanreize beseitigen und man kann Weichen für gesellschaftliche Inklusion stellen.
Dazu ist es u.a. erforderlich, eine breite Fachdiskussion darüber zu führen, wie einerseits bestehende Sonderwelten so zu entwickeln sind, dass sie der Inklusion zuarbeiten und wie andererseits auf bestehende Strukturen wie die Arbeitswelt, die sich bisher nicht mit Inklusion auseinandergesetzt haben (oder nur mit der „Inklusion der Harmlosen“, wie Andreas Fröhlich mal gesagt hat), eingewirkt werden kann, dass sie sich für alle Menschen mit Behinderungen öffnen.
Dass das schwer ist, über realistische Alternativen nachzudenken, kann ich mir gut vorstellen und weiß ich aus eigener Erfahrung. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Werkstätten sind ja einerseits große sozialpolitische Errungenschaften gewesen, die es im Kern zu verteidigen gilt. Aber sie verhindern auch innovative Modelle und Neuorientierungen. Oder erschweren sie zumindest. Dass es anders gehen kann, dafür gibt es ja ein paar Beispiele, aber das sind nur wenige.

Ich komme aus der Praxis. Ich halte es für einen Fehler, auf den großen sozialpolitischen Entwurf zu warten nach dem Motto: Wenn für die Inklusion alles vorbereitet ist, dann machen wir auch mit. Wir müssen jetzt anfangen.
Unsere Institutionen verstehen sich oft genug noch als Endpunkt der Teilhabe, sie müssen aber zum Ausgangspunkt von Teilhabe werden.
Institutionen und Fachkräfte müssen ermutigt werden, neue Wege zu gehen in Werkstätten und Tagesstätten und Fördergruppen. Auch der bisherige Rahmen gibt eine Menge Spielraum, der noch lange nicht ausgeschöpft ist.
Und wenn wir nicht 50, sondern 500 oder 5000 gute Beispiele in Deutschland haben, dann haben wir auch politisch eine andere Diskussion.
Abschließend ein Zitat von Franco Basaglia: „Es kommt darauf an, das Andere nicht nur zu denken, sondern es zu machen.“