Veröffentlicht bei Kobinet am 15.04.2020        https://kobinet-nachrichten.org/

Jessen (Elster) (kobinet) Mit starrem Blick homeofficet die Nation nun schon seit Tagen und redet sich ein, dass das, was da gerade global abgeht, nur ein böser Spuk sei und dass man schon morgen wieder zum Ski- und kreuzfahren in die Welt düsen kann, als sei das alles ein temporäres Ereignis, dem man am besten damit begegnet, dass man all das nachholt, was man die letzten Tage nicht durfte.
Noch vor wenigen Wochen taten die Großen und Gernegroßen der Welt die Appelle von Fräulein Greta T. als überzogene Reaktion einer Pubertierenden mit Asperger ab. Nun zeigt sich, dass alles viel schlimmer ist und dass Neil Postman ein Kinderbuch geschrieben hat.
Leben ist das, was uns passiert und nicht das, was wir plan(t)en; dem wird man wohl nun auch in Akademikerkreisen nicht länger widersprechen.
Freunde, das was uns wirklich bedroht, wohnt nicht irgendwo Richtung aufgehender Sonne. Das, was uns gerade zusetzt, entstammt Herzen und Köpfen, die dem Egoismus frönen und die die Vereinzelung anbeten, weil es lukrativer ist, einer dreiköpfigen Familie selbstverständlich auch drei Smartphones und drei Computer zu verkaufen. Schneller, höher, weiter bis man keine Miete mehr für seine Schuhläden zahlt, die bis zu ihrer Schließung „Stores“ hießen. Und dann ab ans Fenster und den Pflegekräften applaudieren.
Ausgelöst durch ein Virus spüren wir ängstlich und beklommen, wie sich durch den „Lockdown“ plötzlich der kapitalistische Würgegriff um uns lockert und dass wir allein zurückbleiben. Und plötzlich sind Pflegekräfte Systemrelevant.
Die alte Stammtischweisheit, dass das hier alles nicht ewig so weitergehen konnte, hat an die Tür geklopft und mehr als einmal habe ich in solchen Situationen die Bemerkung gehört, dass vielleicht ein Krieg gar nicht so schlecht wäre, denn der würde die Karten noch mal neu mischen.
Wir können froh sein, dass nun ohne Krieg die Karten auf dem Tisch liegen. Angst sollte man allerdings vor denjenigen haben, die das Blatt wieder so in die Hand nehmen wollen, wie sie es gewohnt waren und wie sie es gern wieder hätten, weil es ihnen vertraut ist und weil sie davon profitiert haben. Der Bequeme hätte gern wieder alles so, wie es war. Der Bequeme ist aber auch der Leichtsinnige, denn er nimmt in Kauf, dass sich alles wiederholen kann, weil sich die Bedingungen, die zum Zustandekommen geführt haben, nicht verändert haben.
Als wir noch glaubten, dass es wichtig sei, für den nächsten Urlaub Überstunden zu schieben oder das neueste I-Phone vor allen anderen zu haben, war für den Kapitalismus noch alles in Ordnung. Wir tickten nach seinem Gusto, inklusiv vereinbarter Ratenzahlungen bei Nullprozent Zinsen. Apres Ski in Ischgel ist geil, besonders wenn einem das Schicksal auferlegt hat, in Ostfriesland zu wohnen. Heute alles kein Problem mehr. Verzicht war gestern. Yes, we can. Den Hang da hinten roden wir noch, Hotelanlage und Lift lassen wir uns von der EU fördern und die polnischen Aushilfskräfte haben auch schon zugesagt. Diese frische Luft und das tolle Panorama sind einzigartig. So darf man sich, in aller Demut, das Paradies vorstellen.
„Der Canal Grande ist nicht von Natur aus schmutzig“, würde Loriot sagen.
Und nun? „Lockdown?“
In diesen Zeiten sollte man besonders auf Sprache und Worte achten. Wäre schlimm, wenn man mal eben, quasi zu Wartungszwecken, den Globus auf Null gefahren hätte, um nachher genauso weiterzumachen. Beim simplen Wiederhochfahren würde nämlich auch das mit hochgefahren, was zur Ermöglichung der aktuellen Umstände beigetragen hat, sodass sich alles wiederholen kann.
Das, was nach dem internationalen Hausarrest zu stemmen ist, setzt Vertrauen, Disziplin und Abstimmung voraus. Das sind andere Werte als die, die für den Wiederaufbau nach einem Krieg gefragt sind. Neu für uns alle ist, dass es darum geht, quasi „bei laufendem Betrieb“ umzusteuern.
Es geht nicht um Wiederhochfahren, sondern um Konversion. „Schwerter zu Mundschutz“, um das mal in eine Metapher zu bringen, die dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ entlehnt ist, das während der friedlichen Revolution weit verbreitet war.
Und das, mit Verlaub, betrifft alle Bereiche. Was das für die Touristikbranche, Freizeitindustrie oder die Autobauer bedeutet, mögen andere beurteilen. Es hat aber auch Auswirkungen auf den Sozialbereich.
Damit sich möglichst wenig ändert, können die Verbände, egal ob Gleichheitszeichen, Kreuze oder Herzen, ja wieder nach dem üblichen Schema Forderungen aufstellen und an die Bundesregierung appellieren. Da bleibt man immer schön im Windschatten und kann dann doch sagen, auf Verwerfungen aufmerksam gemacht zu haben. Komfortzone eben.
Auf die Dauer dürfte das aber kaum reichen. Oder sind jetzt speziell auf Pandemieauswirkungen geschulte Sozialarbeiter die Lösung? Das wäre entspräche in etwa der Logik, nach der man künftig auf Kreuzfahrtschiffen Mundschutz und Desinfektionsmittel anbietet, um weiter so durch die Weltmeere pflügen zu können.
Die professionelle Soziale Arbeit hat sich eigentlich immer an gesellschaftlichen Entwicklungen orientiert und diese flankierend begleitet und ermöglicht. Als vor gut 150 Jahren im Zuge der industriellen Revolution tausende Arbeitskräfte benötigt wurden, hat man den Familien Entlastung angeboten, indem man sich um deren sorge- und pflegebedürftige Angehörige kümmerte. An diesem Selbstverständnis hat sich bis heute wenig geändert: Wenn jetzt in der Schule gemobbt wird, dann bietet die Soziale Arbeit eben Schulsozialarbeiter und wenn heute in Familien Gewalt herrscht, kann man ein Frauen- bzw. Männerhaus aufsuchen und auch für Burnout gibt es tolle Angebote.
Den Kurs des Schiffes legt der Kapitän fest und die Aufgabe der Sozialprofis besteht darin, Kapitän und Crew gesund zu halten.
Dieses Selbstverständnis hat seit einigen Wochen Risse und steht seitdem auf dem Prüfstand. Es wird nicht reichen, der Crew den Rücken frei zu halten, ohne sich mit dem Kurs auseinandersetzen. Der Kurs der Crew muss in ethischer Übereinstimmung zu den Werten der Helfer*innen stehen. Welche Gesellschaft wollen wir und wie steuert man von Konsum auf Nächstenliebe und von Egoismus auf Fürsorge um?
Es ist einfacher, in Warstein, Jever oder Flensburg Suchtberatungsstellen zu finanzieren und zu betrieben, als jeden ersten Dienstag im Monat mit Transparenten vor den Werkstoren der Brauereien auf die Suchtgefahren mit Schautafeln und Transparenten hinzuweisen. Lieber setzt man sich für die Schaffung zusätzlicher Planstellen in den Beratungsstellen ein und bezeichnet den Zuwachs an Klient*innen als „Erfolg“ –um das mal etwas plakativ und pointiert rüberzubringen.
Ohne die Diskussion von Grundsatzfragen wird es nicht möglich sein, sich mit Fragen der Konversion zu befassen. Verdammt, diese ganzen Missbrauchsfälle, die Verstrickung und das Schweigen während der Euthanasie, die Medikamentenversuche in den 70‘ern, die begangene Schuld an tausenden Heimkindern, was muss denn noch alles passieren, ehe man den Hut, den die Pandemie in den Ring, geworfen hat, endlich ergreift?
Soziale Kompetenzen gehören in die Fläche! Menschen gehören unterstützt und angeleitet. Es darf kein Herrschaftswissen sein, wie man Kinder erzieht, wie man sie durch die Pubertät begleitet, wie man Menschen pflegt und ihnen assistiert. Menschen brauchen in ihrem Umfeld Hilfe und nicht einen Beratungstermin nächsten Mittwoch um 13:00 Uhr in der Sonnenstraße im dritten Stock.
Im Zeitalter von Google, WIKIPEDIA und elektronischen Übersetzungsprogrammen besteht zur Lebensgestaltung ein Kompetenzbedarf in zwei Richtungen: Es geht um Mediale Kompetenz und um Soziale Kompetenz.
Wir sollten uns dafür stark machen, dass das Soziale ein stärkeres gesellschaftliches Gewicht bekommt und dass, neben der medialen Kompetenz, auch die Soziale Kompetenz gleichberechtigt und selbstverständlich auf die Bildungspläne gelangt. Da wären Curricula zu entwerfen, Ideen für Nachbarschaftshilfe zu entwickeln und eine öffentliche Diskussion über so etwas ähnliches wie ein Soziales Pflichtjahr anzuschieben.
Gute Hilfe macht sich überflüssig, weil sie Menschen kompetent gemacht hat.
Wer allerdings meint, dass es genügt, nach Konzepten zu fragen, wie man beispielsweise Heimbewohner*innen und Werkstattgänger*innen durch diese besonderen Zeiten heilpädagogisch gut begleitet, und nebenbei irgendwelche Pandemiezuschläge fordert, dürfte vermutlich die Zeichen der Zeit nicht richtig gedeutet haben.
Denn es wird nicht gelingen, die aktuellen Aufgaben im Bereich des Sozialen und des gesellschaftlichen Miteinanders mit derselben Art des Denkens zu lösen, die bereits vor der Entstehung bestand.
„Schwerter zu Mundschutz“ eben.
aus: https://kobinet-nachrichten.org/2020/04/15/schwerter-zu-mundschutz/

Vielen Dank, Roland!