Herr Becker, können Sie etwas zu Ihrer Person und Ihrer Intention sagen, den Brief zu unterschreiben?
Ich arbeite seit 40 Jahren mit Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf oder mit schwersten und mehrfachen Behinderungen, wie man früher sagte. Da habe ich vielfach erlebt, dass dies eine Personengruppe ist, die bei den Diskussionen und Bemühungen zuerst um Integration und jetzt um Inklusion hinten runterfallen. Oft geht es um die „Inklusion der Harmlosen“, um Andreas Fröhlich zu zitieren. Ich halte es mehr mit dem „kategorischen Imperativ“ von Klaus Dörner, immer vom Schwächsten her zu denken und zu handeln.
Ich bin zwar selber nicht „schwerst- oder mehrfachbehindert“ und auch kein Vater eines schwer behinderten Kindes, aber aufgrund meiner 40jährigen Berufserfahrung darf ich mir vielleicht anmaßen, stellvertretend für diesen Personenkreis eine Meinung zu äußern.
Außerdem sind der Begriff und das Konzept „Inklusion“ inzwischen so entwertet, dass es kaum noch auffällt, für welchen Unsinn sie verwendet werden, ich erinnere an das „Inklusive Kochbuch“ aus Salzburg. Das ärgert mich immer wieder und zunehmend, dieser „Budenzauber“ um Inklusion, wie Udo Sierck das mal nannte. Vor acht Jahren hat der Vorsitzende des Philologenverbandes gesagt, die BRK und Inklusion seien in Deutschland schon umgesetzt, weil es differenzierte Sonderschulen gebe und jede/r zur Schule gehen könne. Jetzt begegnete mir das gleiche Argumentationsmuster wieder, als die BAG WfbM und WRD sagten, die Arbeitswelt werde durch Werkstätten inklusiv.

Wollen Sie denn, dass die Werkstätten abgeschafft werden?
Das ist zurzeit ja gar nicht das Thema. Ich sitze ja gewissermaßen selbst im Glashaus als Leiter einer Tagesförderstätte, also einer Sondereinrichtung, die diejenigen aufnimmt, die eine andere Sondereinrichtung aussondert. Es ist doch klar, dass man Werkstätten nicht einfach abschaffen kann. Und es ist für mich auch noch ungeklärt, ob man in einer inklusiven Gesellschaft so etwas wie Werkstätten braucht oder nicht. Aber es muss doch möglich sein, darüber nachzudenken, was es für Alternativen geben kann. Das ist doch in allen Bereichen der Sonderwelten verlangt, bei den Sonderkindergärten, den Sonderschulen und den Heimen. Warum fällt uns das im Arbeitsleben so schwer?
Ich glaube, dass die Werkstätten (und auch Förderstätten) sich schon bald selber grundsätzlich bewegen müssen, ganz einfach weil zukünftige Kunden etwas anderes wollen. Früher war der Weg in die Werkstatt schon bei dem Eintritt in die „Sonderschule für geistig Behinderte“ vorgezeichnet. Heute kommen Schulabgänger auf die Arbeitswelt zu, deren Eltern schon für den integrativen Kindergarten gekämpft haben, die integrative oder gar die zarten Anfänge inklusiver Beschulung erfahren haben und die inklusive Freizeitangebote wahrnehmen. Denen reicht die Perspektive nicht, die nächsten 40 Jahre Vogelfutter für 180 Euro im Monat einzupacken.
Dass das schwer ist, über realistische Alternativen nachzudenken, kann ich mir gut vorstellen und weiß ich aus eigener Erfahrung. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Werkstätten sind ja einerseits große sozialpolitische Errungenschaften gewesen, die es im Kern zu verteidigen gilt. Aber sie verhindern auch innovative Modelle und Neuorientierungen. Oder erschweren sie zumindest. Dass es anders gehen kann, dafür gibt es ja ein paar Beispiele, aber das sind nur wenige.
Und in meinem Arbeitsfeld der Tages- und Förderstätten wird es häufig als der Gipfel der Inklusion betrachtet, wenn die Menschen aus einer Tagesförderstätte in die Werkstatt wechseln können. Dass das für manche ein Fortschritt ist, bestreite ich nicht. Aber man muss auch sehen, dass es nur sehr selten gelingt und auch nur der Wechsel von einer Sondereinrichtung in eine andere ist und keineswegs Inklusion. Dabei hätten es Förderstätten noch leicht, alternative Modelle auszuprobieren, weil sie keinen so engen gesetzlichen Rahmen haben wie die WfbM. Manche tun das ja auch, wie z.B. in den Projekten „Zeit für Arbeit“ und „Weiterbildung im Netzwerk“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung dokumentiert ist. Die Werkstätten haben es da mit ihrem Korsett der Werkstättenverordnung schwerer.
Wichtig ist mir noch zu betonen, dass ich hohen Respekt vor der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den WfbM, Tagesförderstätten und Fördergruppen habe. Die Arbeit ist oft anstrengend und schwer. Und ich arbeite seit vielen Jahren in verschiedenen Arbeitszusammenhängen sehr gut mit der BAG:WfbM zusammen. Trotzdem muss es möglich sein, darüber nachzudenken, wie sich die Hilfesysteme weiterentwickeln können.

Herr Becker, Sie engagieren sich insbesondere auch dafür, dass Menschen mit schweren Beeinträchtigungen am Arbeitsleben teilhaben können. Wie definieren Sie „Arbeit“ und wie begegnen Sie der nicht selten vorgetragenen Ansicht, dass Menschen mit schweren Beeinträchtigungen aus der Arbeitswelt auszuschließen seien?
Es geht um Teilhabe an der Arbeitswelt als einem der wichtigsten gesellschaftlichen Felder. Dazu muss man nicht für Dritte wirtschaftlich verwertbar arbeiten können. Die österreichische Sozialpsychologin Marie Jahoda hat mal gesagt: „Arbeit ist der innerste Kern des Lebendigseins.“ Arbeit heißt: Ich bringe mich mit meinen Fähigkeiten und Interessen in meine Umwelt ein, ich tue etwas für die Gemeinschaft, und das kann jeder Mensch, egal wie schwer behindert er oder sie ist. Natürlich mag es einzelne Menschen geben, für die eine Teilhabe an der Arbeitswelt nicht erstrebenswert erscheint, aber das hat nichts damit zu tun, ob und wie sie behindert sind.

Sind Ihnen Beispiele für Inklusion und Teilhabe am Arbeitsleben von besonders beeinträchtigten Menschen bekannt?
Aus meiner eigenen praktischen Arbeit seit 40 Jahren kann ich sagen: die Teilhabe am Arbeitsleben ist allen Menschen möglich, man muss dazu gelegentlich nur die eigenen Vorstellungen von Arbeit hinterfragen. Die sind ja in der Regel vom kapitalistischen Gedanken geprägt, dass Arbeit für Dritte wirtschaftlich verwertbar sein muss. Teilhabe ist auch am Arbeitsleben möglich und fast immer ein hoher Gewinn für schwer behinderte Menschen. Dazu gibt es inzwischen immer mehr Literatur und Berichte, wir in der ASB-Tagesförderstätte in Bremen setzen das um, ebenso die Kolleg*innen von Leben mit Behinderung Hamburg und ein paar andere. Sehr schön nachzulesen und –sehen ist das in der Dokumentation des Projekts „Zeit für Arbeit“ auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung und in den „Empfehlungen zur Qualitätssicherung und Weiterentwicklung von Angeboten zur Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf“ des AK Bildung ist Teilhabe.

Wie soll es weitergehen mit Ihrer Initiative?
Wir sind ja nur ein paar Privatleute, die sich zu Wort gemeldet haben. Dass sich so schnell so viele und prominente Unterstützer*innen an unsere Seite gestellt haben, freut uns natürlich. Aber wir können nur eine Diskussion anstoßen, etwas Bewegung in die Debatte bringen und vielleicht durch unseren Brief verschiedene Interessengruppen zueinander bringen.

https://kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/39231/Nachdenken-wie-sich-Hilfesysteme-weiterentwickeln-können.htm/?search=Becker