Mein Freund Roland Frickenhaus hat einen neuen Text geschrieben, den ich hier exklusiv vorstellen und zur Diskussion stellen darf:
,Systemsprenger‘ gesucht!
Roland Frickenhaus
Nein, das hier ist kein Stellenangebot für notorisch unangepasste Besserwisser und auch kein Wohnangebot für Menschen, denen man aufgrund der Komplexität ihrer Beeinträchtigung einen festen Wohnort zugewiesen hat, um das mit den „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ mal etwas wohlwollend zu umschreiben.
Aber: Wie kann man eigentlich ein System „sprengen“, in dem man gar nicht verankert ist und von dem man, weil man durch „unangepasstes Verhalten“ sowieso nur stört und Scherereien bereitet, in ein gesondertes System verwiesen wird? Bevor die „Sprengung“ droht, wird lieber selektiert und wir lernen: Auch Sonderwelten haben ihre Grenzen und kommen in der Regel ohne weitere Besonderung(en), die hier dann lieber „Binnendifferenzierung“ genannt werden, nicht geräuschlos durch die Untiefen der UN-BRK.
Systemsprenger sind übrigens diejenigen, für die die UN-BRK NICHT geschrieben wurde, weil es ja doch immer irgendwie Menschen zu geben scheint, die nicht an unserer Welt und ihrem gesellschaftlichen Leben teilhaben können und für die deshalb die schicken besonderen und besondernden Sonderwelten das Nonplusultra der Teilhabe sind.
Das muss man pragmatisch sehen: Keine Enthospitalisierung ohne Zurücklassen von systemsprengenden Individualist*innen, für die verschlossene Türen ohnehin die beste Lösung sind. Ohne Freiheitsentzug keine Teilhabe.
Aber wie können Menschen, deren Recht auf selbstbestimmte Teilhabe durch einen richterlichen Beschluss eingeschränkt ist, das klassische durchgestylte System leistungstypgeregelter Teilhabe „sprengen“, wenn sie von diesem System abgewiesen und in ein speziell für sie geschaffenes System überführt werden, und sie sich doch gar nicht (mehr) in dem System befinden, das sich durch sie bedroht sieht?
Das System Heim/ Sonderwelt hat es nicht leicht, wirklich nicht. Da machen UN-BRK und BTHG Druck von außen und von innen stören die Systemsprenger*innen.
Zum Selbsterhalt bieten Heime, die man gern Wohnstätten nennt, die aber eigentlich nichts anderes als Sammelunterkünfte sind, ihren Nutzer*innen die Möglichkeit, einen Heimbeirat zu wählen. Und wer damit nicht klarkommt, der darf die von Sprengung bedrohte Sammelunterkunft dann auf der Grundlage eines richterlichen Beschlusses gern auch wieder verlassen, um dort festgehalten zu werden, wo bereits andere Menschen leben, deren Freiheit auf der Grundlage eines gültigen richterlichen Beschlusses ebenfalls eingeschränkt ist.
Wenn wir uns an den kürzlich verstorbenen Klaus Dörner und seinen „kategorischen Imperativ“ erinnern, wonach die Hilfe denjenigen zu fokussieren hat, bei dem es sich am wenigsten lohnt, und das nicht nur irgendwie freundlich bejahen, dann ist klar, was zu tun ist: WIR müssen das System sprengen.
Wer macht mit? Wer hat genug von den Teilhabephrasen, von dem Bettvorleger, der in Marburg als Tiger lossprang und in Berlin weich gelandet ist? Wer will denn endlich mal den Satz der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) kommentieren, wonach Werkstätten für behinderte Menschen den Arbeitsmarkt in Deutschland erst inklusiv machen? Wer hat genug von interessengeleiteter Deutungshoheit der Platzhirsche und wer Interesse an der „Sprengung“ des Systems? Bei der Teilhabe, liebe Freunde, da ist noch jede Menge Luft nach oben!
Nicht jeder Träger, der in den letzten 30 Jahren seine Komplexeinrichtung in freundliche dezentrale Sammelunterkünfte umgeswitcht hat, ist automatisch zum Systemsprenger geworden. Der Impuls zur Enthospitalisierung in den 80er und 90er Jahren hat sich primär aus betriebswirtschaftlichen und weniger aus menschenrechtlichen Überlegungen gespeist. So sind beispielsweise die Vorträge aus Mönchengladbach, Südhessen oder Hamburg noch in lebhafter Erinnerung.
Wer die UN-BRK konsequent anwenden und umsetzen will, muss zuerst bei denjenigen Angeboten beginnen, bei denen es sich am wenigsten „lohnt“, wenn er sie aufgibt.
Also: Nicht das sprengt das Sorgesystem „Teilhabe“, mit dem sich geringe Einnahmen generieren lassen, sondern das mit dem höchsten Profit. Und das ist, neben den Wohnplätzen nach § 1906 BGB, zweifelsfrei das Sondersystem der Werkstatt für behinderte Menschen. Und das erklärt dann auch, warum die Komplexeinrichtungen von einst sie heute immer noch im Portfolio haben. Alles will man schließlich auf dem dem Altar der UN-BRK auch nicht opfern…
Ein neues Jahr bietet naturgemäß auch immer neue Möglichkeiten. Nicht Wenige begehen den Jahreswechsel mit guten Vorsätzen. Für alle diejenigen, die keine Lust haben, mal wieder das Rauchen aufgeben und mehr Sport treiben zu wollen, könnte doch der Vorsatz, sich im kommenden Jahr glaubhaft, mutig und konsequent für das Sprengen des Systems „Sonderwelt“ einzusetzen, eine lohnende Alternative sein. Wer will, schafft das!! Und wer nicht, na, der kann dann ja im Laufe des Jahres immer noch mit dem Rauchen aufhören…
Das System lässt sich nicht von innen heraus reformieren und schon gar nicht von Menschen, die von ihm partizipieren. Da sind sich Heimbetreibende, Mitarbeitende und Heimbeiräte bzw. Werkstatträte auch unausgesprochen einig. Und auch von Angehörigen, die jedes zweite Wochenende Sohnemann und Tochterfrau nach Hause holen, dürfte wohl kaum eine systemsprengende Bedrohung ausgehen.
Wenn diejenigen, die das System zu sprengen drohen, weggesperrt werden, dann gibt es innerhalb des Systems zu wenige, die es bedrohen. Druck muss also hauptsächlich von außen kommen. Konjunktiv ist keine Kunst und zu einer klaren menschenrechtlichen Umsetzung der UN-BRK braucht es weniger von denen, die mit Laptop, PowerPoint und Nadelstreifen daherkommen, sondern mehr kluge und umsichtige „Sprengmeister*innen“.
Ein Verbündeter ist schnell ausgemacht: Die UN-BRK selbst! Wer sie anwendet, sprengt das System! Das erklärt, warum schon seit Jahren so heftig um ihre Deutungshoheit gestritten wird.
Und das erklärt auch, was dringend gesucht wird: Systemsprenger!
Roland Frickenhaus, Plau am See, im Dezember 2022
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