Als Marlis Pörtner ihr erstes Fachbuch veröffentlichte, war sie bereits über 60 Jahre alt und hatte ein reiches und buntes Leben hinter sich. Sie ist mit einem kleinen Theater durchs Land gezogen, war Sekretärin, hat Bücher übersetzt, im Rundfunk moderiert, war verheiratet und wieder geschieden und hat zwei Kinder großgezogen. Schließlich hat sie Psychologie studiert und in Zürich eine psychotherapeutische Praxis gegründet. Hier hat sie immer wieder, als eine der wenigen Psychotherapeutinnen, geistig behinderte Menschen therapiert. Aus diesen Erfahrungen hat sie auf der Grundlage des Personzentrierten Ansatzes von Carl Rogers das Personzentrierte Konzept entwickelt und 1996 in ihrem Buch „Ernstnehmen-Zutrauen-Verstehen“ vorgestellt. Das Buch ist seitdem bis heute in 13 Auflagen erschienen, ist in fünf Sprachen übersetzt und wurde ihr erstes in einer Reihe weiterer Bücher.
Mit dem Buch, ihren Fachberatungen, Supervisionen und Fortbildungen hat Marlis Pörtner das Leben vieler behinderter Menschen so viel besser gemacht. Sie war eine kompromisslose Kämpferin für die Rechte behinderter Menschen. Nicht auf der politischen Bühne, auch nicht als Vertreterin eines Verbandes oder einer Einrichtung. Sie hat sich für die scheinbar kleinen Rechte im Alltag stark gemacht, die aber erst wirkliche Selbstbestimmung und Menschenwürde ausmachen. Das Recht, abends noch eine Kleinigkeit zu essen, auch wenn die Nachtwache das nicht erlaubt, selbst zu entscheiden, ob und wann man duscht oder ob man einen zweiten Kaffee trinkt und wofür man sein eigenes Geld ausgibt, wie man sich kleidet und das Recht, den Nachtisch vor der Hauptspeise im Heim zu essen, das Recht, angesprochen zu werden, wenn eine Verrichtung an meinem Körper vorgenommen wird. „Wenn eine Pflegeperson dem pflegebedürftigen Mann den Löffel in den Mund steckt, bevor er Gelegenheit hat, ihn selber zu öffnen, ist das Gewalt, auch wenn er gefüttert werden muß, weil er selber nicht essen kann. … Wenn die Bezugspersonen bestimmen, wie viel und was jemand essen soll, so ist das ein Übergriff, auch wenn er aus gesundheitlichen Gründen erfolgt.“ (2018, 159f)
Das Personzentrierte Konzept hilft, derartige Situationen zu verhindern. Es setzt im Mikrosystem an der konkreten und alltäglichen Begegnung zwischen Klient*innen und Betreuer*innen an und hilft, den Alltag menschenwürdig zu gestalten. Es regt an, auf die „kleinen, feinen Nuancen im alltäglichen Umgang, die für die Lebensqualität der betroffenen Menschen so entscheidend wichtig sind – und weder zusätzlich Zeit noch Geld kosten“ zu achten (2014, 202).
Marlis Pörtner hat immer betont, dass es nicht darum geht, „Menschen mit geistiger Behinderung Normen aufzudrängen, die wir für richtig halten, sondern Raum zu schaffen, damit sie – im Rahmen der sie umgebenden Realität – so leben können, wie es ihnen am besten entspricht.“ (2018, 31) Sie hat die Gabe gehabt, Haltung in Handlungsgrundlagen und Richtlinien darzustellen, die Fachkräften viele Anregungen geben, die eigene Praxis zu überprüfen. Sie zeigt uns auf, wie oft wir, oft durchaus wohlmeinend, Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung übergehen, ignorieren und ihnen Entwicklung vorenthalten.
Wir alle sind für Selbstbestimmung, in unseren Leitbildern und Konzepten steht inzwischen stets „der Mensch im Mittelpunkt“. „Aber was es heißt, diese Auffassung im Alltag konkret zu verwirklichen, ist vielen Bezugspersonen unklar.“ (2018, 25)
Gute Rahmen-Lebensbedingungen sind eine grundlegende Voraussetzung für eine gute Entwicklung, sagen aber noch nichts darüber aus, wie die Beziehung zwischen Menschen in diesen Rahmenbedingungen gestaltet ist. Das ist aber sehr wichtig, denn Menschen mit geistiger Behinderung sind im Feld der Macht ganz an den Pol der Ohnmacht gedrängt. Hier setzt das Personzentrierte Konzept an. „Personzentriert arbeiten heißt, nicht von Vorstellungen ausgehen, wie Menschen sein sollten, sondern davon, wie sie sind, und von den Möglichkeiten, die sie haben. Personzentriert arbeiten heißt, andere Menschen in ihrer ganz persönlichen Eigenart ernstzunehmen, versuchen, ihre Ausdrucksweise zu verstehen und sie dabei zu unterstützen, eigene Wege zu finden, um – innerhalb ihrer begrenzten Möglichkeiten – angemessen mit der Realität umzugehen.“ (2019, 20)
In dem von Marlis Pörtner gegründeten „Internationalen Netzwerk Personzentriert Arbeiten“ vernetzen und treffen sich seit 2011 jährlich Personen und Institutionen, die sich der personzentrierten Arbeitsweise verpflichtet fühlen, zum Erfahrungsaustausch. Die Vernetzung ermöglicht, voneinander zu lernen und regt die kritische Reflexion des eigenen Handelns an.
Am 31. Oktober 2020 ist Marlis Pörtner im Alter von 87 Jahren nach kurzer schwerer Erkrankung in Zürich gestorben. Wir haben eine kompromisslose Kämpferin für ein würdevolles Leben behinderter Menschen verloren.
Aus dem Netzwerk Personzentriertes Arbeiten:
Heinz Becker, Bremen
Marco Beringer, Schweinfurt
Gesa Ebeling, Köln
Jörg Markowski, Berlin
Pörtner, Marlis (2014): Das Internationale Netzwerk Personzentriert Arbeiten. In: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, 4/2014, S. 200-207
Pörtner, Marlis (2016): Alt sein ist anders – Personzentrierte Betreuung von alten Menschen, 4. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta
Pörtner, Marlis (2018): Brücken bauen – Menschen mit geistiger Behinderung verstehen und begleiten. 5. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta
Pörtner, Marlis (2019): Ernstnehmen – zutrauen – verstehen. 13. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta
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